Sunday, July 18, 2010
GERMAN - Kienle Coley Text
Der Merkurstab 56. Jahrgang 2003 Heft 6 355
Die Coley'sche Fiebertherapie der Krebserkrankung
historischer Markstein oder heute noch Vorbild?
Ein Beispiel für Cognition-based Medicine
Gunver S. Kienle, Helmut Kiene
Zusammenfassung
Die Coley'sche Fiebertherapie war der historische
Beginn der modernen Tumorimmunologie und
immunologischen Tumorbehandlung. Ende des 19.
Jahrhunderts wurde diese ungewöhnlich erfolgreiche
Fiebertherapie (nach Verabreichung abgetöteter
Bakterien) entwickelt. Bei optimaler Anwendung
induzierte sie in hohem Maße, auch bei
fortgeschrittener Erkrankung Tumorremissionen und
langjährig nachverfolgte Heilungen. Interessant ist
hierbei, dass diese Therapie auf der Grundlage von
ärztlichen Beobachtungen und ärztlichem Urteil
entwickelt und in Form hunderter von Einzelfällen
sorgfältig dokumentiert wurde. Sie ist ein Beispiel
für eine frühere Verwirklichung von Cognition-based
Medicine. Sie kann auch heute noch Vorbild dafür sein,
dass und wie wirksame Therapien von praktizierenden
Ärzten entwickelt und dokumentiert werden können ein
Vorgehen, das in der heutigen Medizin vernachlässigt
wird. Im Detail zeigt diese Therapie einige Spezifika,
die auch für die Fortent wicklung der Misteltherapie
von Interesse sind und Vorbild sein könnten für ein
Mistel-Optimierungsprojekt.
Schlüsselwörter
Coley's Toxine, Krebstherapie Onkologie,
Misteltherapie Cognition-based Medicine
Einzelfallbeurteilung
Abstract
The application of Coley's vaccine (mixed bacterial
vaccine) is the historical begin of modern tumor
immunology and immune therapy of cancer. This
successful therapy was developed in the end of 19th
century. If applied in optimal way - a key element was
induction of high and consistent fever - it induced
tumor remissions and long term healing in many cancer
patients; they were followed up for years and decades.
An interesting feature of this therapy was its
development from physicians observation and judgement,
and its documentation of hundreds of cases. It is an
example for the early realization of Cognition-based
Medicine. Still today Coley's therapy can be regarded
as a model case for development and documentation of
successful therapies by practicing physicians - a
procedure that is neglected in the modern medical
system. Furthermore, Coley's therapy presents many
details that may be of great interest for the
development of mistletoe therapy.
Keywords
Coley's vaccine Cancer therapy Oncology Mistletoe
therapy Viscum album Cognition-based Medicine Single
case
Immuntherapie onkologischer Erkrankungen
Coley's fever therapy
Die Coley'sche Fiebertherapie ist heute das vierte
Standbein moderner Tumortherapien. Dies ist eine neue
Errungenschaft. Über Jahrzehnte hatte die
Tumorimmunologie eher den Ruf eines
"wissenschaftlichen Rotlichtmilieus". (1) Von dem Auf
und Ab der Respektabilität der Tumorimmunologie wurde
auch die Misteltherapie - als weit verbreitete
komplementärmedizinische Krebsbehandlung und als
immunologisch hochwirksame Therapie - erfasst.
Als historischer Beginn der Tumorimmunologie gilt die
von William Coley am Ende des 19. Jahrhunderts
entwickelte Fiebertherapie mit bakteriellen Toxinen.
Zahlreiche immunologische Entdeckungen gingen später
aus diesem Ansatz hervor. Coley's Therapieerfolge
zeigten, dass ein immunologischer Therapieansatz (den
Coley selbst allerdings, seiner Zeit entsprechend,
nicht als solchen benannte) Tumorremissionen und
komplette Heilungen von malignen Tumorerkrankungen
bewirken kann. Bis heute ist die Coley'sche Therapie
vielleicht eine der erfolgreichsten Immuntherapien
überhaupt, auch wenn sie in ihrer ursprünglichen Form
leider nicht mehr existiert.
Nicht nur wegen ihrer historischen Pionierstellung
und ihrer bemerkenswerten Erfolge ist es lohnend,
sich mit der Coley'schen Therapie zu befassen.
Faszinierend ist auch, dass sie - im Gegensatz zu
modernen Therapieverfahren - allein aufgrund
ärztlicher Beobachtungen und Erfahrung entwickelt
wurde. Da sie exzellent dokumentiert ist (wenn auch
leider nicht optimal ausgewertet), sind Coley's
Entdeckungen und Entwicklungsschritte auch heute noch
nachvollziehbar. Die empirische Methodik, mit der
Coley seine Therapie entwickelte, gilt heute
gemeinhin - in Unkenntnis solcher historischer
Beispiele - als ungeeignet für die Entwicklung und
Prüfung einer Therapie, da sie lediglich auf
individuellem ärztlichen Urteil basiert (2). Wenn man
Coley's historisches Beispiel ernst nimmt, ist diese
Auffassung allerdings widerlegt. Coley's Vorgehen ist
gewissermaßen ein Antipode zu der modernen Methode
der Arzneimittelentwicklung. Es ist deshalb wichtig
darüber zu reflektieren, denn viele Therapien - so
auch die Misteltherapie - könnten von diesem
Beurteilungs- und Optimierungsansatz profitieren.
Warum konnte Coley die nach ihm benannte Therapie
rein empirisch entwickeln? Es war möglich, weil er
über ausgeprägten Heilerwillen und Heilermut
verfügte, verbunden mit scharfer Beobachtungsgabe und
vor allem mit großem persönlichen Einsatz, und weil
auf der Therapieseite - die Wirkung 1) rasch eintrat
und eindeutig erkennbar war, 2) spezifische Kriterien
aufwies, 3) langjährig nachbeobachtet wurde, und da 4)
zwischen Heilung, Besserung und ausbleibendem Erfolg
unterschieden werden konnte. Coley's
Therapieentwicklung ist ein historisches Beispiel für
eine gelungene implizite Form der Cognition-based
Medicine, die das ärztliche Urteil als Ausgangspunkt
für Entwicklung und Beurteilung von Therapien nimmt
(1, 2).
Die Anfänge der pyrogenen Fiebertherapie - Erysipele
Zu William B. Coley - ein junger New Yorker
Chirurgen, mit Auszeichnung dekorierten Absolventen
der Harvard Medical School - kam eines Tages, Ende des
19. Jahrhunderts, die hübsche 19-jährige Freundin John
D. Rockefellers jr. in Behandlung. Das Schicksal
dieser jungen Frau, sie war an einem Sarkom erkrankt,
sollte Coleys Leben verändern. Als ihr Sarkom trotz
radikaler Operation rezidivierte und metastasierte und
sie bald danach an ihrer Erkrankung starb, musste
Coley sich erschüttert eingestehen, dass operative
Verfahren keine ausreichende Behandlung für Sarkome
bieten (3, 4).
Entschlossen, nach weiteren Möglichkeiten zu suchen,
durchforschte er in langwieriger Arbeit die
Unterlagen aller in den vorangegangenen 15 Jahren im
New York Hospital behandelten Sarkompatienten. Hierbei
stieß er auf die Beschreibung eines 31-jährigen
Patienten mit einem Sarkom des Nackens (round cell),
der innerhalb von 3 Jahren 5-mal operiert worden war,
bis sich das Sarkom bei der letzten Operation als
inoperabel erwies und die Prognose des Patienten als
hoff nungslos eingestuft wurde. Dann jedoch erkrankte
er in rascher Folge 2-mal an einem hochfieberhaften
Erysipel, und während dieser Erkrankung verschwand das
Sarkom vollkommen. Coley stellte Nachforschungen über
den Verbleib dieses Patienten an und konnte ihn nach
mühsamer Suche schließlich in New York ausfindig
machen: Er war 7 Jahre nach der Tumorremission
weiterhin tumorfrei und wohlauf (5, 6).
Beeindruckt von diesem Krankheitsverlauf durchforstete
Coley die medizinische Literatur nach Berichten über
Sarkom- und Karzinompatienten,die ebenfalls,zufällig
oder iatrogen, an einem Erysipel erkrankt waren.
Insgesamt fand er Berichte über 38 Patienten, wobei 12
mal (3 Karzinome, 7 Sarkome, 2 Sarkome oder Karzinome)
die Tumorerkrankung im Verlauf des Erysipels völlig
und langanhaltend verschwunden war; bei den meisten
übrigen Patienten hatte sich immerhin die
Krankheitssituation vorübergehend gebessert (3, 5).
Tatsächlich hatten entsprechende Beobachtungen - dass
Tumorerkrankungen im Verlauf von fieberhaften
Infektionserkrankungen, insbesondere von Erysipelen
verschwinden - schon früher die Aufmerksamkeit mancher
Ärzte erregt:In Deutschland hatte Busch 1866
beschrieben, dass unter Erysipelen, die sich um den
Tumor ausgebreitet hatten, die Tumoren sich komplett
zurückbilden konnten (7, 8). 1882 hatte Fehleisen
durch iatrogen erzeugte Erysipele Tumorremissionen
erzielt und damit zugleich die Streptokokken-Ätiologie
der Erysipelinfektionen bewiesen (9, 10). Ähnliche
Berichte gehen auf das 18. und den Anfang des 19.
Jahrhunderts zurück: Inoperable, hoffnungslose
Karzinom- oder Sarkomerkrankungen bildeten sich im
Verlauf von fieberhaften, manchmal eitrigen
Infektionserkrankungen zurück (11, 12). Ein
französischer Arzt, Dussosoy, legte mit gangränösem
Exsudat getränkte Verbände auf exulcerierte
Mammakarzinome oder inokulierte gangränöses Material
in kleine Hauteinschnitte und konnte damit Tumoren
zum Verwinden bringen (12). - Dies sind frühe,
kursorische und abenteuerliche Berichte. William Coley
aber entwickelte - von seinen Beobachtungen ausgehend
- eine der erfolgreichsten Tumortherapien. Als Coley
wieder einen Patienten in einer ähnlich hoffnungslosen
Lage behandelte, unternahm er einen Therapieversuch
mit Erysipelerregern, mit lebenden Streptokokken:
Es handelte sich um einen 35-jährigen Italiener mit
rezidiviertem und progredientem Sarkom an Nacken und
Tonsille. Der hühnereigroße Tumor an der Tonsille
verlegte beinahe komplett den Pharynx. Feste Nahrung
konnte der Patient nicht mehr zu sich nehmen, und auch
flüssige Nahrung lief meist wieder durch die Nase
zurück. Das Befinden des Patienten war schlecht, er
war kachektisch und ausgezehrt, die Tumoren konnten
nicht mehr operiert werden, und es war zu erwarten,
dass er nur noch kurze Zeit leben würde.
Diesem Patienten wurden nun alle 3 bis 4 Tage
Streptokokken injiziert, was aber nur zu leichten
lokalen und systemischen Reaktionen führte, die nach
24 - 48 Stunden wieder abgeklungen waren. Die Tumoren
wurden etwas kleiner und das Befinden etwas besser,
ein durchschlagender Erfolg blieb aber aus,
Erysipelattacken konnten nicht induziert werden. Nach
2 Monaten wiederholter Inokulationen wurde eine
2-monatige Therapiepause eingelegt, woraufhin die
Tumoren wieder progredient wurden und sich das
Befinden wieder verschlechterte. Als Coley einen
erneuten Therapieversuch unternahm, injizierte er
Streptokokken eines anderen Labors, initial von Koch
aus Deutschland; er injizierte sie direkt über dem
Nackentumor und löste hiermit nun endlich eine schwere
Erysipelinfektion aus: Innerhalb einer Stunde
entwickelte der Patient Schüttelfrost, starke
Schmerzen, Übelkeit, er erbrach und bekam über 40 °C
Fieber. Innerhalb von 12 Stunden entwickelte sich die
typische Wundrose und dehnte sich allmählich über das
ganze Gesicht und den ganzen Kopf aus. Die Attacke
hielt 10 Tage an. Am Tumor zeigten sich prompte
Veränderungen: er wurde rasch blasser, weicher, brach
am 2. Tag auf und entlehrte während der folgenden
10 Tage ein käsiges Sekret; nach 2 Wochen war der
Tumor ganz verschwunden. Auch die übrigen Knoten und
der Tonsillentumor bildeten sich zurück. Das
Allgemeinbefinden besserte sich rasch, der Patient
wurde gesund und blieb tumorfrei über weitere 8 Jahre;
dann bekam er ein Rezidiv, an dem er verstarb (5, 6).
Coley behandelte 9 infauste Tumorpatienten (5
Sarkome, 4 Karzinome) mit lebenden Streptokokken (5).
Bei der Mehrzahl der Patienten konnte er trotz
wochenlanger Versuche kein Erysipel erzeugen, es kam
dennoch klinisch und lokal zu leichten
Verbesserungen. Bei drei Sarkompatienten ließ sich
ein Erysipel induzieren, worunter es jeweils zu einer
Tumorremission kam. Einer der drei Fälle ist
folgender:
Einem 46-jährigen Deutschen, mit ausgedehntem,
inoperablen Sarkom am Rücken und in der
Leistengegend, injizierte Coley alle 2 - 3 Tage eine
Streptokokkenkultur direkt in den Tumor. Auch hier
konnte zunächst kein Erysipel induziert werden, es kam
nur lokal zu einer leichten Rötung, die sich nach 24 -
48 Stunden wieder normalisiert hatte; die Tumoren
wurden dabei etwas kleiner. In der 4. Woche konnte
dann endlich eine schwere Erysipelattacke ausgelöst
werden, die mit Schüttelfrost, Fieber über 40 °C,
Übelkeit, Erbrechen und extremer Erschöpfung begann.
Auch hier zeigten sich rasche Veränderungen am Tumor:
Innerhalb von 24 Stunden bekam der Tumor im Rücken,
der zuvor von glänzend hellroter Farbe gewesen war,
ein glanzloses und mattes Aussehen, er schrumpfte
bereits innerhalb dieser ersten 24 Stunden deutlich
zusammen. Am 2. Tag brach er auf und entleerte
käsiges Sekret. Der Tumor in der Leiste, über den
sich das Erysipel nicht erstreckt hatte, zeigte seine
Veränderungen mit einigen Tagen Verzögerung. - Die
Erysipelattacke währte 10 Tage, nach 3 Wochen waren
die Tumoren verschwunden, und der Patient erholte
sich.
3 Monate später kam es zu einem Lokalrezidiv auf dem
Rücken, umgeben von vielen weiteren rasch wachsenden
Knötchen; über 4 Monate wurde nun immer wieder
Streptokokken injiziert, die allerdings nur geringe
Fieberreaktionen, aber kein Erysipel nach sich zogen;
die Knötchen verkleinerten sich oder verschwanden
unter den Injektionen, traten aber wieder auf, sobald
die Injektionen ausgesetzt wurden. Nach 4 Monaten kam
es erneut zu einer hochfieberhaften Erysipelattacke,
die von denselben Veränderungen am Tumorort begleitet
war wie die erste Attacke. Die Tumoren verschwanden
wiederum komplett und waren nach 3 Wochen nicht mehr
nachweisbar. 3 Wochen später kam es wieder zu einem
Rezidiv und dann spontan zu 3 weiteren
Erysipelerkrankungen, die jedoch deutlich milder
verliefen. Die Toxininjektionen wurden fortgesetzt,
und schließlich wurde der Patient tumorfrei und blieb
es für 3 1/2 Jahre, bis dann Metastasen auftraten (5,
6).
Das Coley-Toxin
Aus jenen ersten Erfahrungen ließen sich verschiedene
Erkenntnisse ableiten: erstens, dass es schwierig ist,
mit lebenden Streptokokken eine Erysipelinfektion
hervorzurufen; zweitens, dass lebende Streptokokken
zwar Tumorrückbildungen bewirken, aber keine
Tumorerkrankungen zum dauerhaften Verschwinden bringen
können, dies kann nur die fulminante Erysipelattacke;
drittens, dass ein hochfieberhaftes Erysipel (in
vor-antibiotischer Zeit) eine schwer beherrschbare
lebensgefährliche Erkrankung ist. In der Tat hat
Coley später 2 Patienten durch ein von ihm induziertes
Erysipel verloren. Er suchte deshalb nach einer
Möglichkeit, die Wirksamkeit der Therapie zu steigern
und die Gefahr der unbeherrschbaren
Erysipelinfektionen zu umgehen. Abgetötete
Streptokokken allein waren wenig wirksam, die
Kombination mit Gram-negativen Bakterien - Serratia
marcescens, damals Bacillus prodigiousus genannt -
angeregt durch tierexperimentelle Ergebnisse von
Rogers - erwies sich als hochpotent. So wurde das
"Coley-Toxin" entwickelt, heute auch bekannt unter dem
Namen Mixed Bacterial Vaccine, MBV (6, 13, 14, 15).
Der erste Patient, der 1893 mit dem Coley-Toxin
behandelt wurde, war ein 16-jähriger Deutscher mit
einem inoperablen Spindelzellkarzinom der Bauchwand
und des Beckens (13 x 13 x 16 cm), das bereits die
Blase infiltriert hatte. Der Patient war in schlechter
Verfassung als die Therapie begann. Das Toxin wurde
direkt in den Tumor injiziert, führte zu hohem Fieber,
starkem Schüttelfrost und Kopfschmerzen, gelegentlich
nahm der Tumor nach den Injektionen vorübergehend an
Größe zu, wurde aber ansonsten allmählich kleiner und
bildete sich im Verlauf der nächsten Monate völlig
zurück. Der Patient blieb gesund und rezidivfrei, und
starb 26 Jahre später plötzlich in der U-Bahn an einem
Herzversagen infolge einer Myokarditis (15).
Sukzessive wurde die Therapie mit Coley's Toxinen über
die nächsten Jahre entwickelt und an schließlich über
tausend Patienten eingesetzt. Sie stellte für kurze
Zeit die einzige offizielle systemische Tumortherapie
in den USA dar. In großer Zahl wurden
Tumorremissionen und Langzeitheilungen erreicht, die
sorgfältig dokumentiert wurden (oft auch
photographisch) und heute allgemein zugänglich sind
(z. B. 5, 6, 16, 15). Nicht nur die erfolgreichen,
sondern auch die weniger erfolgreichen und die
erfolglosen Behandlungen wurden dokumentiert und
ausgewertet, da alle Verläufe für die
Weiterentwicklung der Therapie als bedeutsam erachtet
wurden (17, 18, 9, 20, 21, 22). Möglicherweise ist es
eine der bestdokumentierten Therapien überhaupt; es
war die Leistung von Coley's Tochter Helen
ColeyNauts, dass alle erreichbaren Patienten
langfristig nachbeobachtet wurden, in vielen Fällen
über Jahrzehnte, in einem Fall sogar 88 Jahre lang.
Die Therapieverläufe wurden in "Erfolge" und
"Misserfolge" unterteilt, dabei wurde als "Erfolg"
das vollständige und langanhaltende Verschwinden des
Tumors bezeichnet, als "Misserfolg" aber nicht nur
eine ausbleibendeTumorremission, sondern auch eine
komplette Tumorremission, sofern sie später wieder
rezidivierte (17, 18, 19, 20, 21, 22). (Dieser Punkt
ist beachtenswert, da nach moderner
WHO-Klassifikation als "Erfolg" auch schon eine
komplette oder partielle Remission von nur 4-wöchiger
Dauer gelten kann. Sofern hier ein Bewertungsshift
vorliegt, würden einige heutige Therapieerfolge bei
Coley als Misserfolg, und einige von Coleys
"Misserfolgen" unter moderner Klassifikation als
Erfolg gewertet werden.) Eine detaillierte, vor
wenigen Jahren publizierte Übersichtsarbeit zu
ColeyToxinen stellte die Behandlungsverläufe aller
Patienten zusammen, die an inoperablen malignen
Neoplasien erkrankt waren und ausschließlich mit
Coleys Toxinen behandelt worden waren (s. Tabelle 1).
Vor allem Sarkome wurden behandelt, mit teils
erstaunlich guten Ergebnissen,beispielsweise bei
inoperablen Weichteilsarkomen 62 % Remissionen allein
unter Coley's Toxin. Von diesen Behandlungserfolgen
wurden immerhin 77 % über mindestens 5 Jahre und 33 %
sogar mehr als 20 Jahre tumorfrei nachverfolgt (10).
In welchem Prozentsatz die Patienten allein durch
Bakterientoxine in eine Remission gebracht werden
konnten, ist heute aus dem publizierten Material
nicht sicher zu entnehmen. In einer Nebenbemerkung
erwähnt William Coley, dass nach seiner Erfahrung
circa 10 % der Patienten mit Sarkomen allein durch die
Toxinbehandlung in Remission gebracht und dauerhaft
geheilt werden könnten, bei den übrigen käme es zu
Rezidiven (13). Bei den geheilten Patienten habe es
sich aber zu einem erheblichen Teil um Patienten mit
inoperablen Sarkomen gehandelt (diagnostisch von
damals führenden Pathologen gesichert), die in ihrem
fortgeschrittenen, hoffnungslosen Zustand eine solche
Verbesserung von allein sicherlich nicht erlebt
hätten (23).
Die Toxine wurden meist direkt in oder um den Tumor
herum injiziert, konnten aber auch systemisch
(intravenös oder intramuskulär) oder subkutan
appliziert werden. Die verschiedenen
Applikationsweisen scheinen sehr unterschiedlich
wirksam gewesen zu sein (6, 14, 11). Die Patienten
entwickelten innerhalb einer Stunde Schüttelfrost und
hohes Fieber (39 - 41 °C), das 12 - 24 Stunden
anhalten konnte. Diese Reaktion - das ausreichend hohe
und konsistente Fieber - galt als entscheidend für
den Therapieerfolg. Das Toxin wurde erst in geringer,
dann in ansteigender Dosierung appliziert und täglich
oder alle 2 Tage gegeben. Die Therapie wurde über
Wochen und Monate fortgeführt, was entscheidend für
den dauerhaften Erfolg zu sein schien. Insgesamt
wurde jeder Patient individuell behandelt, d.h. je
nach seiner speziellen Verfassung und nach der
jeweiligen Reaktion auf das Toxin. Hierdurch konnten
die Nebenwirkungen gering gehalten und die
therapeutische Effizienz gesteigert werden (23, 6,
13, 24, 14).
Therapieerfolge zeigten sich meist sofort: Innerhalb
weniger Tage wurde der Tumor blasser, beweglicher,
weicher und bildete sich dann rasch zurück oder
musste eröffnet werden, damit käsiges Sekret
abfließen konnte. Die lokalen Veränderungen wurden
detailliert beschrieben, sie waren immer ähnlich,
sowohl bei intratumoraler wie auch bei tumorferner
Injektion der Toxine (13).Trat der Erfolg nicht
rasch,d.h. innerhalb von 1 - 4 Wochen ein, galt die
Therapie als unwirksam und musste verändert oder
beendet oder, falls sie sich als palliativ wirksam
erwies, in niedriger Dosierung fortgeführt werden.
Damit ein dauerhaftes Verschwinden der
Tumorerkrankung - eine Heilung - erreicht werden
konnte, mussten die Toxine konstant und über lange
Zeit gegeben werden. Wurde die Therapie zu früh
abgesetzt, so wurde der Tumor wieder progredient oder
es kam zu Rezidiven (13, 19, 20, 25, 21, 22).
Abgesehen von den Tumorremissionen bewirkten die
Toxine oft eine Palliation, sie linderten Schmerzen
(oft schon nach der ersten Injektion (26)),
verbesserten den Appetit und die Gewichtszunahme,
verminderten Lymphödeme, Aszites und Pleuraergüsse
und verbesserten die Knochenmarksregeneration (27,
11, 28, 21, 22).
Entscheidend für den Erfolg schien gewesen zu sein,
dass sowohl eine lokale Entzündung als auch eine
systemische Reaktion in Form von ausreichendem Fieber
mit Schüttelfrost erzeugt wurden. Ausschlaggebend für
den Therapieerfolg war also nicht nur die injizierte
Substanz, sondern vor allem die induzierte Reaktion
des Organismus, andererseits wurde sonstiges Fieber,
das nicht durch das Toxin induziert war, als weit
weniger wirksam erachtet (29). Die Therapie verlor
rasch an Wirksamkeit, wenn sie nicht unter optimalen
Bedingungen verabreicht wurde, wenn es sich nicht um
qualitativ gutes Toxin handelte oder wenn keine
optimale Reaktion beim Patienten erreicht werden
konnte.
Natürlich war die Reaktion auf die Toxine nicht
ungefährlich. Fieberreaktion und Schüttelfrost waren
eine Belastung der meist schwer erkrankten Patienten,
weswegen die Therapie nur von erfahrenen Ärzten
durchgeführt werden sollte. Es wurde zunächst in
niedriger und dann, angepasst an die Reaktion des
Patienten, in ansteigender Dosierung injiziert;
Behandlung und Dosierung mussten individuell
ausgerichtet, engmaschig kontrolliert und supportiv
unterstützt werden. Da andererseits die
tumorbedingten Symptome rasch abnahmen und die
Patienten meist eine sofortige Besserung ihres
Befindens erlebten, waren die Nachteile von
Schüttelfrost und Fieber aufgewogen. Bei vorsichtiger
Anwendung konnten selbst schwerstkranke Menschen von
der Therapie profitieren, wie das folgende Beispiel
zeigt:
Ein 40-jähriger schwedischer Tierchirurg war an einem
Sarkom der rechten Maxilla erkrankt. Schon wenige Tage
nach der Operation war der Tumor wieder progredient,
bald infiltrierte und verschloss er die Nase,
infiltrierte den Pharynx und die Parotisregion und
metastasierte in die Leber. Das Befinden
verschlechterte sich rapide, der Patient wurde stark
ikterisch, konnte kaum noch sprechen. Aufgrund des
schlechten Befindens sollte von einer Toxintherapie
abgesehen werden, jedoch bestand der Patient selbst
auf der Durchführung der Therapie.
Zunächst wurde das Coley-Toxin intratumoral
appliziert, zeigte jedoch keine Wirkung, hingegen
verschlechterte sich der Zustand des Patienten
weiterhin: In der Mundhöhle exulcerierte der Tumor
und roch widerwärtig; bald waren die Zähne fest
geschlossen, so dass auch die Mundhöhle nicht mehr
gereinigt werden konnte. Der Patient konnte praktisch
keine Nahrung mehr schlucken und konnte
dementsprechend auch kein Wasser mehr lassen.
Er hatte subfebrile Temperaturen (38,2 °C), sein Puls
war rasch (155 - 165/min) und unregelmäßig, er zeigte
Symptome einer Herzinsuffizienz, konnte kaum noch
sehen, und der Ikterus nahm erheblich zu. Er wurde als
präfinal eingestuft. Die Ärzte wollten die
Toxintherapie beenden, der Patient bestand aber auf
einer Fortführung. Es wurden nun täglich geringe Mengen
des Toxins in die Bauchdecke injiziert, woraufhin sich
das Befinden zunächst leicht bereits in der ersten
Nacht konnte der Patient wieder etwas Champagner
trinken - in den weiteren Tagen aber immer rascher
besserte. Innerhalb von 3 Wochen verschwand der
Ikterus, und die Tumormassen am Gesichtsschädel
schrumpften. Der Patient entwickelte großen Appetit
und nahm deutlich an Gewicht zu. Die Toxintherapie
wurde weiter fortgesetzt, nach 1/2 Jahr war von der
Tumorerkrankung nichts mehr nachzuweisen. 1 Jahr nach
der schweren Erkrankung nahm er seine Arbeit als
Tierarzt einer großen Praxis wieder auf und versah auch
sämtliche Nachtdienste. Der Patient blieb 6 weitere
Jahre gesund und ohne Hinweis auf eine neue
Tumorerkrankung, dann starb er an einer akuten
Nephritis nach Alkohol-exzess (15).
Voraussetzung für die Durchführung der Toxintherapie
war große Vorsicht bei der Anwendung: der behandelnde
Arzt musste insbesondere über persönliche Erfahrung im
Umgang mit hochfieberhaften Patienten und über
umfassende Kenntnisse der Therapie verfügen. Dennoch
blieb ein Restrisiko; bei ungefähr 1000 behandelten,
meist schwerstkranken Patienten berichtet Coley von
insgesamt 6 tödlichen Komplikationen (durch Embolie
oder akute Nephritis; das Gefährlichste waren jedoch
unerfahrene und uninformierte Ärzte) (13, 24).
Darüberhinaus hatte die Toxintherapie aber kaum
Nebenwirkungen, insbesondere keine organtoxischen (30,
27, 21, 22, 31).
Bis heute ist es ein ungeklärte Frage, ob die
Erfolge, die man mit dem Coley-Toxin bei Sarkomen
erzielte, auch bei Karzinomen zu erreichen waren. Die
Aussagen Coley's sind in dieser Hinsicht
widersprüchlich, möglicherweise sind sie teilweise
auch als Reaktionen auf gegnerische Anfeindungen zu
interpretieren (32, 11, 26, 10).Tatsache ist
jedenfalls, dass hauptsächlich Sarkompatienten
behandelt wurden, vielleicht weil Coley als Leiter der
Abteilung für Knochentumoren auf Sarkome spezialisiert
war (33). Anscheinend waren die Bakterientoxine aber
auch bei Karzinomen nicht gänzlich unwirksam, wie eine
Reihe dokumentierter Fälle klarlegt (17, 34, 35, 36,
37, 38, 28, 12). Hierzu die folgenden Beispiele:
Ein 69-jähriger Mann mit ausgedehntem, rezidiviertem
Kolonkarzinom und histologisch gesicherten Metastasen
in Peritoneum, Leber, Lunge und Pleura, war bereits
wiederholt operiert, bestrahlt und chemotherapiert
worden (Nitrogen mustard HN2), die Tumorerkrankung war
aber trotzdem progredient. Der Patient wurde mit
Übelkeit, Erbrechen und Luftnot bei massivem
Pleuraerguss und Aszites, die fast täglich punktiert
werden mussten, ins Krankenhaus eingeliefert. Die
Leber war verhärtet und vergrößert. Der Zustand des
Patienten war so schlecht, dass der Tod in den
nächsten Tagen erwartet wurde. Dennoch wurde eine
Therapie mit Coley-Toxinen begonnen, die intrakutan
injiziert wurden, was zu heftigen lokalen und
systemischen Reaktionen (Fieber) führte. Dem Patienten
ging es innerhalb von einigen Stunden deutlich besser,
nach wenigen Tagen bildeten sich Aszites und
Pleuaerguss zurück, Übelkeit und Erbrechen
verschwanden, der Patient konnte wieder essen, kam zu
Kräften und nahm an Gewicht zu. Wenige Wochen später
konnte er nach Hause entlassen werden, allem Anschein
nach hatten sich alle Metastasen zurückgebildet. Der
Patient gesundete und war noch 10 1/2 Jahre später -
bei Publikation des Berichts - wohlauf und gesund
(39).
Auch beim Mammakarzinom gab es Therapieerfolge (28),
z. B. den folgenden: Eine 39-jährige Frau, mit
zahlreichen Karzinomerkrankungen in der Familie,
erkrankte an einem Mammakarzinom erst der einen Brust,
die dann amputiert wurde, im Jahr darauf in der
anderen Brust, die ebenfalls amputiert wurde. Bereits
ein weiteres Jahr später kam es zu einem rasch
wachsenden, inoperablen Rezidiv in der
Pektoralisregion. Die Patientin war kachektisch, wog
nur noch 36 kg, und ihre verbleibende Überlebenszeit
wurde auf 6 Monate geschätzt.
Auf Wunsch der Familie wurde eine Therapie mit
Coley-Toxinen begonnen, obwohl Coley selbst die
Erfolgsaussichten für gering hielt. Das Toxin wurde
niedrig dosiert und an verschiedenen Stellen in den
Tumor injiziert, was entzündliche Reaktionen
hervorrief. Nach 4 Wochen hatte sich der Tumor bereits
deutlich zurückgebildet, bald war er nicht mehr
nachweisbar. Die Patientin genas und meinte, sie habe
sich noch nie so wohl gefühlt. Nach 15 gesunden Jahren
kam es zu einem Tumor der rechten Axilla, das James
Ewing histologisch als hochmalignes Karzinom
diagnostizierte, die Patienten verweigerte nun jede
weitere Therapie und starb an der progredienten
Erkrankung (40).
Ein 59-jähriger kanadischer Farmer entwickelte ein
Hodenkarzinom, das zunächst operiert wurde, dann aber
einige Monate später schon intraabdominell
metastasiert hatte, was zu einem Darmverschluss
führte. Der Patient wurde laparotomiert, man fand ein
ausgedehntes inoperables Tumorwachstum von der linken
Niere ausgehend, das auch die Aorta weit umfasste. Es
wurde lediglich die Darmpassage wiederhergestellt ohne
den Tumor zu resezieren und die Wunde wieder
verschlossen. Der Patient befand sich weiterhin in
schlechtem Allgemeinzustand, er hatte 15 kg Gewicht
verloren, war ausgemergelt und schwach, fast moribund.
Er begab sich dennoch in die MayoKlinik, wo ihm die
Mayo-Brüder die Diagnose bestätigten und zu einer
Coley-Therapie rieten.
Über 7 Monate wurde er mit den Toxinen behandelt, die zu
heftigen Fieberschüben mit Schüttelfrost führten. Die
Tumor-Symptome bildeten sich sukzessive zurück, der
Patient genas und nahm an Gewicht zu; der Tumor, der
vormals gut palpabel und durch die Bauchdecke sichtbar
gewesen war, konnte nun nicht mehr getastet werden. Der
Patient erholte sich gänzlich, erlangte die volle
Gesundheit und starb 23 Jahre später an einer Pneumonie
(41). Wie die Beispiele zeigen, konnten also auch
Karzinome auf die Toxintherapie ansprechen, faktisch
aber wurden sie - obwohl ihre Prävalenz weit größer
ist als die der Sarkome - viel seltener behandelt;
vermutlich sprechen sie schlechter auf die Therapie an
(26).
Die Herstellung der Bakterientoxine erfolgte meist im
eigenen Labor,es gab jedoch auch kommerzielle
Präparate. Zeitweise gab es mehr als 15 verschiedene
Toxinpräparate, die sich allerdings in der
Wirksamkeit sehr unterschieden, insbesondere die
kommerziellen Präparate seien wenig wirksam gewesen:
weder konnten sie ausreichende Fieberreaktionen noch
Tumorremissionen bewirken (19, 42, 26). Diese schwach
wirksamen kommerziellen Präparate wurden lange Zeit
von Ärzten außerhalb von New York benutzt, weshalb
diese Ärzte oft kaum oder keine Erfolge erzielten
(19, 42).
Als beispielsweise ein Patient mit einem Lymphosarkom
unter einem kommerziellen Toxin-Präparat trotz hoher
Dosierungen keine Reaktion zeigte, wandte sich der
behandelnde Arzt an William Coley, der ihn mit selbst
hergestelltem Toxin versorgte. Schon die erste
Injektion verursachte hohes Fieber, Schüttelfrost und
Tumornekrose; nach einem stürmischen Therapieverlauf
wurde der Patient gesund und blieb es auch die
nächsten 35 Jahre, bis er an einer Herzerkrankung
starb (43). Coley wandte sich daraufhin an die Firmen,
die Toxine herstellten, um deren Präparate zu
verbessern, denn der Gebrauch kaum wirksamer Präparate
entmutigte viele Ärzte (19). Dennoch,so schreibt die
Tochter Helen ColeyNauts, seien insbesondere von 1921
an die kommerziellen Präparate nur sehr schwach
wirksam gewesen (26).
Die Wirksamkeit der Coley'schen Toxine wird eigentlich
von niemandem, der die Faktenlage kennt und beurteilen
kann, bezweifelt. Auch in der renommierten Zeitschrift
Nature wurde kürzlich anerkennend über William Coley
und seine Therapie berichtet (44). Das Tragische ist
jedoch, dass nach Coley's frühem Tod im Jahre 1936
diese hocheffektive Therapie bald verlassen wurde - in
der Hoffnung auf die therapeutischen Wunder der
künftigen Chemo- und Strahlentherapie, was sich
leider, insbesondere beim inoperablen Sarkom, nicht in
dem erhofften Maße bestätigte. Was blieb, ist eine Art
Legende:William Coley als Vater der Tumorimmunologie.
Nach Coleys Tod wurde die Behandlung mit
Bakterien-Toxinen zwar verschiedentlich
fortgeführt,als aber nach der europäischen
Contergantragödie in den Vereinigten Staaten die Kef
auver Bill verabschiedet wurde und es zu strikten
Forderungen nach präklinischen und klinischen Studien
als Vorraussetzung für die Einführung neuer
Medikamente durch die FDA kam, war dies das Ende für
das Coley-Toxin.
Es wurde, obwohl seit 70 Jahren angewandt und gut
dokumentiert, als neues Medikament eingestuft.
Entsprechend wurden die zur Neuzulassung notwendigen
Untersuchungen gefordert (25). Damit aber wäre eine
millionenschwere Investition in Experimente und
klinische Studien in onkologischen
Schwerpunktkrankenhäusern erforderlich geworden. Da
jedoch kein Investor ein Interesse an einer
Investition in ein nicht patentierbares Produkt hat,
und da sich onkologische Schwerpunktkrankenhäuser
anderen Themen als einem 70 Jahre alten
Bakteriengemisch zuwandten, war diese Therapie auf
bürokratischem Wege ins Aus manövriert worden.
Schon zu Coleys Zeiten gab es ideologische Opposition
gegen die Therapie. Der Bostoner Chirurg Richardson
kommentierte dies folgendermaßen: "Scepticism may be
so extreme that carefully observed cases are thrown
out for one reason or another, though I cannot think
but chiefly for the reason that they were successful"
(4). Die Skepsis stützte sich auf erfolglose
Therapieverläufe, bei denen allerdings - laut Helen
ColeyNauts - die Patienten nur geringe Mengen des
ColeyToxins oder nur schwach wirksame Präparate
erhielten. Weiter wurde der Vorwurf erhoben, die
Behandlungen seien "anekdotisch" und die Diagnosen
seien nicht richtig gestellt worden.
Gerade Coley hatte aber großen Wert darauf gelegt,
dass die histologische Diagnose von mindestens zwei
renommierten und unabhängigen Pathologen gesichert
wurde; zudem sind bei rezidivierten und metastasierten
Krankheiten die Fehldiagnosen eher unwahrscheinlich
und dürften allenfalls in Ausnahmefällen, nicht aber
regelmäßig bei den hunderten von Patienten vorgekommen
sein. Erwähnenswert mag in diesem Zusammenhang auch
sein, dass William Coley ein insgesamt
aufgeschlossener, modern denkender Arzt war. Er hat
nicht nur das Coley-Toxin entwickelt, sondern war auch
in anderen Bereichen innovativ: so führte er am
Memorial Hospital (es ist heute das weltberühmte
Memorial Sloan Kettering Cancer Center) schon 5 Jahre
nach Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm
Röntgen, trotz allgemeinen Widerstandes, Röntgengeräte
ein und installierte sie auch in seiner Praxis (4).
Ein anderes Argument gegen Coley's Toxintherapie - das
Argument ist bis heute beliebt - war die Behauptung,
dass die Therapie schon allein deshalb nicht wirksam
gewesen sein konnte, da sie ja sonst allgemein
akzeptiert und anerkannt worden wäre. Dieses
Münchhausen-Argument kommentierte Coley: "I will call
attention to one fact, apparent to anyone familiar with
the history of medical discoveries; that the relative
value of such discoveries bears not the slightest
relation to the rapidity of acceptance by the medical
profession" (26).
Gerade zu Coley's Zeiten gab es zwei weitere berühmte
Beispiele: die jahrzehntelange und entwürdigende
Verschmähung von Carl Ludwig Schleichs Entdeckung der
Lokalanästhesie (45, 46), und Ignaz Semmelweis, der
nach der Entdeckung der iatrogenen Ursache des
tödlichen Kindbettfiebers (es waren die infizierten
Hände der Ärzte) von empörten Kollegen ins Irrenhaus
gesteckt wurde und dort an den Folgen der
Misshandlungen durch die Wärter starb (47).
Spätere Evaluationen
Die in vielen Fällen hochwirksame
BakterientoxinTherapie, die heute nur noch als ein
memoriales Dasein in den Einleitungssätzen
tumorimmunologischer Literatur fristet, wäre ohne
William Coleys Tochter, Helen Coley-Nauts, gänzlich in
Vergessenheit versunken. Sie hatte es sich über mehr
als ein halbes Jahrhundert hinweg zur Aufgabe
gemacht, sämtliche für sie erreichbaren Details zur
Coley-Therapie und zu den Behandlungsverläufen zu
sammeln, zu dokumentieren, zu systematisieren und
schließlich zu publizieren und der Öffentlichkeit und
späteren Generationen zugänglich zu machen.
Zusammen mit renommierten Tumorimmunologen gründete
sie das New Yorker Cancer Research Institute. Sie
durchforstete über Jahrzehnte die Patientenkarteien
sämtlicher Praxen und Krankenhäuser, von denen sie
wusste, dass dort Patienten mit Coley-Toxinen
behandelt worden waren. Verwandte Themen wurden von ihr
ebenfalls ausgiebig recherchiert und umfassend
dokumentiert,wie der Zusammenhang von Krebs und
Infektionserkrankungen und die sogenannten
Spontanremissionen.Auch hierzu sind Helen ColeyNauts'
Arbeiten eine Fundgrube.
1953 publizierte sie in der Acta Medica Scandinavica
eine detaillierte Analyse, die weltweit Aufsehen
erregte. Sie hatte die Verläufe von mehr als 1200
behandelten Tumorpatienten zusammengestellt; davon
konnten in über 270 Fällen von inoperablen und oft
metastasierten Krebserkrankungen durch die Behandlung
mit Coley-Toxin eine komplette Remission und in der
Regel langjährige und dauerhafte Heilungen erreicht
werden; die Nachbeobachtung erstreckte sich auf bis zu
45 Jahre (15).
Eine Vielzahl weiterer systematischer
Zusammenstellungen wurden zu verschiedenen
Indikationen erstellt, z. B. zu Weichteilsarkomen
(21, 22), zu Retikulumzellsarkomen des Knochens (18),
Hodgkin-Lymphomen (48), Knochensarkomen (49, 50),
Ovarial-, Zervix-, Uteruskarzinomen (38),
Mammakarzinomen (28), Neuroblastomen (36),
Nierenzellkarzinomen (37), Melanomen (35),
Hodenkarzinomen (17), Weichteilsarkomen (19),
kolorektalen Karzinomen (34), Ewing-Sarkomen (51) und
Multiplen Myelomen (52). Auch bei diesen weiteren
Zusammenstellungen zeigten sich in hohem Maße
Tumorremissionen und Langzeitheilungen.
In späteren Jahren wurden dann prospektive Studien
durchgeführt, bei denen sich allerdings die
Behandlungsart von der früheren unterschied: während
früher immer maximal therapiert worden war,
individuell angepasst an die spezielle Verfassung und
die konkreten Reaktionen des betreffenden Patienten,
und während eine ausreichend konsistente und
langanhaltende Fieberreaktion angestrebt worden war,
nahm man in den neueren Studien die Intensität der
Therapie deutlich zurück, und man individualisierte
das therapeutische Verfahren nicht mehr,sondern
standardisierte es in zunehmendem Maße. Damit war die
Behandlung aber meist ungenügend, auch waren die
verwendeten Toxine weniger gut als die früheren (H.
ColeyNauts, persönliche Mitteilung; Übersicht z. B.
in (1)).
Immer wieder wird die Frage gestellt, warum die
Coley-Therapie aufgegeben und nicht wieder eingeführt
wurde, da es sich doch um eine gut dokumentierte und
wirksame Therapie handelt. Dies hat verschiedene
Gründe.
Zum einen ist die moderne, fortschrittsorientierte
Medizin ablehnend gegenüber älteren Therapien, die
nicht aus wissenschaftlichen Labors und nicht
aufgrund von zell- und molekularbiologischen
Konzepten entwickelt wurden, sondern der Empirie und
dem Engagement eines einzelnen Arztes entstammen.
Zum zweiten sind heute - in antibiotischen und
antipyretischen Zeiten - die medikamentös nicht
gesenkten Fieberzustände, wie Coley sie induzierte,
weitgehend inakzeptabel. Hinzu kommt, dass den Ärzten
die Erfahrung im Umgang mit kritischen
Fieberzuständen fehlt, so dass man heute vor solcher
Therapie, nicht zu Unrecht,zurückschrecken würde - im
Gegensatz zu früheren Zeiten,wo fieberhafte Zustände
zum Alltag eines Arztes gehörten und von ihm
beurteilt, eingeschätzt und supportiv behandelt
werden konnten.
Ferner spricht der Einsatz von Bakterien - letztlich
von "Dreck" - selbst im abgetöteten Zustand gegen jedes
moderne Sterilitätsideal und widerspricht auch den
Vorschriften zur Endotoxinfreiheit der Medikamente.
Auch der Mangel an Standardisierung von Präparat und
Applikation, das Fehlen eines indentifizierten
Wirkmoleküls und der unklare Wirkmechanismus sind
Anlass zur Ablehnung. Ein weiterer Grund, zumindest in
Deutschland, ist die Nähe zur Komplementärmedizin. Die
Bakterientoxine wurden mit Erfolg insbesondere von
Joseph Issels angewandt, der deshalb inhaftiert und
vor Gericht gestellt wurde (53, 54).
Ein wichtiger Grund für die Ablehnung kam jedoch in
dem allgemeinen medizinischen Wertewandel des 20.
Jahrhunderts: Man akzeptiert heute nicht mehr die
Erfahrung des klinischen Alltags, des einzelnen
Arztes die Basis der Coley-Therapie.
Beurteilungskompetenz in Sachen therapeutischer
Wirksamkeit wird heute nur dem kontrollierten
klinischen Versuch zugesprochen. Selbst wenn William
Coley und seine Kollegen einen bedeutenden Teil der
von ihnen behandelten Krebspatienten geheilt und gut
dokumentiert haben, so wird dennoch diese Methode
schon wegen der retrospektiven Evaluation als
anekdotisch und damit als unnütz klassifiziert und
nicht ernst genommen. Eine Entwicklung, die ihren
Zenit, so ist zu hoffen, bereits überschritten hat
(55).
Die heute für die Zulassung geforderten
experimentellen und klinischen Untersuchungen
(Wirkmechanismus, Pharmakologie, Wirksamkeit,
Unbedenklichkeit) können aber, abgesehen von dem
fehlenden Support durch onkologische Zentren, aus
einem weiteren Grund nicht durchgeführt werden - die
Therapie ist zu billig und kann nicht teuer
vermarktet werden. Die Entwicklungskosten von
Arzneimitteln bis zur Zulassung werden meist mit
dreistelligen Millionenbeträgen angegeben.
Diese Beiträge können aber nur von der Industrie, und
nur unter Patentschutz (nicht jedoch von einzelnen
praktizierenden Ärzten) investiert werden, und auch
nur, wenn eine Chance besteht, dass sich die
Investitionen amortisieren. Die Voraussetzung hierfür
aber ist die Patentierbarkeit,was beim Coley-Toxin
nicht der Fall ist, da es ein bekanntes
Therapieverfahren und ein Vielstoffgemisch ist. An
dieser Tatsache ist die Wiedereinführung des
Coley-Toxins durch verschiedene, teils sehr
interessierte Pharmaunternehmen gescheitert
(Coley-Nauts, persönliche Mitteilung).
Resumé
Verschiedene Elemente lassen sich in der Historie
Coleys erkennen, die maßgebend für seinen
therapeutischen Erfolg waren: die persönliche
Betroffenheit angesichts schwer und aussichtslos
erkrankter Patienten; die feste Entschlossenheit,
unter allen Umständen eine wirksame Therapie zu
finden; der große persönliche Einsatz, der auch vor
dem langwierigen Durchforsten langweiliger Archive
oder dem unermüdlichen Ersteigen zahlloser Vorder-
und Hintertreppen New Yorker Wohnquartiere bei der
Suche nach dem ersten Schlüsselpatienten nicht
zurückschrak; die ausgedehnte Suche nach
therapeutischen Möglichkeiten und die systematische
Abklärung dieser gefundenen Möglichkeiten in der
Literatur; das ständige Literaturstudium, sowohl was
vergangene Erkenntnisse als auch was gegenwärtige
Forschungen betrifft; die Aufgeschlossenheit und
Wachheit bei Kritikfähigkeit gegenüber modernen
Entwicklungen in der Medizin und relevanten
Erkenntnissen der Wissenschaft; die sorgfältige
Beobachtung der behandelten Patienten und das
jahrelange Verfolgen dessen, was mit den Patienten
weiter geschieht; und nicht zuletzt der persönliche
Mut und der unermüdliche Heilerwillen, dem konkreten,
von ihm behandelten Patienten zu helfen, auch wenn
dessen Prognose noch so ungünstig erschien.
Die Patientenverläufe wurden sorgfältig nüchtern und
kritisch beobachtet. Es wurde zwischen Erfolgen,
Teilerfolgen und Misserfolgen unterschieden, diese
Erfolge bzw. Misserfolge mit dem jeweiligen Modus der
Therapie (Art und Häufigkeit der Applikation, Art der
Herstellung des Toxins) kritisch in Verbindung
gebracht und auf diese Art die Therapie sukzessive
verbessert. Auf Seiten der Therapie - die in manchem
an die Misteltherapie erinnert - ist folgendes
bemerkenswert: die rasche,hohe und konsistente
Fieberreaktion mit Schüttelfrost, auftreten bestimmter
Veränderungen am Tumorort und im Allgemeinbefinden
schon nach wenigen Tagen; ansteigende Dosierung;
genügend lange Therapieanwendung; absolut individuell
eingestelle Therapieanwendung.
Notwendig war eine fundierte Kenntnis und Erfahrung
des behnadelnden Arztes in der Anwendung der Toxine
und in der Beobachtung und Einschätzung
hoch-fiebernder Patienten. Das Toxin mußte ein
geeignetes sein. Sowohl die spezielle Eignung des
Toxins als auch die ausreichende Reaktion des
Organismus waren also für den Erfolg der Therapie
entscheidend. Waren die Bedinungen nicht optimal,
verlor die Therapie rasch an Wirksamkeit. Die Frage
ist, ob sich hieraus Anregungen für die
Mistelanwendung und -forschung gewinnen lassen.
Auch im Bereich der Misteltherapie könnte die
ärztliche Erfahrung systematisch ausgewertet werden.
Dazu müssten die Patientenbehandlungen möglichst gut
dokumentiert werden (56, 57). Auch hier könnten die
Patientenverläufe unterteilt werden in erfolgreich,
teilweise erfolgreich und nicht erfolgreich. Als
therapeutische Erfolge müssen nicht nur
Tumorremissionen aufgefasst werden, auch positive
Wirkungen im vegetativen, psychischen oder
spirituellen Bereich könnten dokumentiert werden.
Wichtig wäre, dass nicht nur der therapeutische
Erfolg, sondern auch ein Ausbleiben des Erfolges
erkannt und dokumentiert wird.
Die therapeutischen Erfolge könnten in Beziehung
gesetzt werden zu dem eingesetzten Präparat, zu Ort
und Art der Applikation, zur Art der Dosierung, zur
Art der Begleittherapie, zur Art der Vortherapie, zum
Auftreten bestimmter Begleitveränderungen u.s.w.
Hierzu können Therapieverläufe prospektiv dokumentiert
werden, es können aber auch retrospektiv Fallberichte
ausgewertet werden. Das Projekt könnte in
anthroposophischen Praxen durchgeführt, aber auch
problemlos auf den außeranthroposophischen Bereich
ausgedehnt werden. Hierfür könnte eine Datenbank zu
Einzelfallberichten und Fallserien eingerichtet
werden, die man dann zu bestimmten Fragestellungen
recherchiert. Es sollte den Ärzten, wenn erwünscht und
erforderlich, eine Hilfestellung zur Dokumentation
gegeben werden. Hiermit könnte eine Kultur des regen
Austauschs zwischen Mistel-behandelnden Ärzten mittels
qualitativ hochwertiger Einzelfälle und Fallse rien
entstehen.
Dr. med. Gunver S. Kienle
Dr. med. Helmut Kiene Institut für angewandte
Erkenntnistheorie und
medizinische Methodologie Schauinslandstraße 6 D-79189
Bad Krozingen
gunver.kienle -at- ifaemm.de www.ifaemm.de
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