Saturday, July 2, 2011

GERMAN TEXT (mediocre overview COLEY history)


Coleys Toxins

m Herbst 1890 wurde bei Elizabeth Dashiell, einer jungen,
zarten, siebzehnjährigen Frau, Knochenkrebs in der rechten
Hand diagnostiziert. Da sich die Krankheit noch im Frühsta-
dium befand, nahm man ihr den betroffenen Unterarm ab –
dennoch starb sie wenige Monate später. Ihr am New Yorker
Memorial Hospital, dem späteren Memorial Sloan-Kettering Cancer
Center, behandelnder Arzt war der damals achtundzwanzig
Jahre alte William Coley, Absolvent der Harvard Medical School.
Zutiefst betroffen begann er, alte Patientenakten zu studieren,
ohne zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Beim Lesen der
verstaubten Krankenberichte fiel ihm auf, dass die meisten
Krebstherapien scheiterten, die meisten Krebs-Patienten star-
ben also. Doch er fand auch die Akte eines Patienten, der unter
einem Sarkom (einer Krebsgeschwulst des Bindegewebes) im
fortgeschrittenen Stadium gelitten hatte und wieder geheilt
worden war.

Der bereits todkranke Mann war im Herbst 1884 mit einer
an zwei Stellen ausgebrochenen schlimmen Wundrose (Erysi-
pel) ins Krankenhaus eingeliefert worden. Diese mit hohem
Fieber verbundene, durch Streptokokken verursachte Hautin-
fektion hatte sein Immunsystem aktiviert. Das pf laumengroße
Geschwür unter seinem linken Ohr begann zu schrumpfen, der
Patient kam wieder zu Kräften und wurde völlig gesund. Als
der hartnäckig weiterforschende Coley ihn etwa sieben Jahre
später aufsuchte, ging es dem Mann immer noch gut. Der Krebs
war nicht wieder ausgebrochen.

Da Coley seine Entdeckung vor über hundert Jahren machte,
zu einer Zeit also, als das Immunsystem noch ein unerforschtes
Gebiet war, verstand er nicht, wieso sich der Krebs durch eine
Streptokokken-Infektion zurückbilden konnte. Dennoch glaub-
te der Wissenschaftler in ihm, dass er vielleicht über etwas
Wichtiges gestolpert war – einen neuartigen Weg der Krebsbe-
handlung –, und begann eine Versuchsreihe mit Sarkom-Pati-
enten.3 In seinem ausgezeichneten Buch A Commotion in the
Blood4 (deutsch: Aufruhr im Blut) beschreibt Stephan Hall mit ei-
ner Begeisterung, die ansteckend wirkt, Coleys Anstrengungen,
das nachzuahmen, was die Natur auf so vollkommene Weise
vorgemacht hatte. Coleys erste Versuche, einen Sarkom-Pati-
enten mit lebenden Streptokokken-Kulturen zu impfen, schlu-
gen fehl. Doch schließlich gelang es ihm, besonders an-
steckende Bakterien zu besorgen, die bei dem Mann, der das
Glück hatte, sie injiziert zu bekommen, hohes Fieber und Haut-
infektionen auslösten. Nach nur wenigen Wochen bildeten sich
die Tumoren im Nacken dieses Patienten zurück. Schließlich
verschwanden sie ganz und kamen viele Jahre lang nicht wieder.
Der junge Arzt schrieb darüber seine erste Arbeit, die veröf-
fentlicht wurde.

Mit lebendigen, bösartigen und ansteckenden Bakterien zu
arbeiten war natürlich gefährlich (und tatsächlich starben zwei
von Coleys Patienten an diesen Streptokokken-Infektionen).
Also entwickelte der Arzt eine sicherere Methode, indem er ei-
nen Impfstoff erfand. Nachdem er Bakterien gezüchtet hatte,
tötete Coley die Kolonien oder filterte sie heraus, denn er ging
davon aus, dass die von den Bakterien produzierten Giftstoffe
wenigstens zum Teil dafür verantwortlich waren, dass die Tu-
moren sich zurückbildeten.5 Außerdem fügte Coley die Gift-
stoffe eines zweiten Krankheitserregers hinzu, der heute unter
Serratia marcescens bekannt ist. Diese Kombination stellte sich als
sehr erfolgreich heraus. Bei fortgeschrittenen, inoperablen Sar-
komen erzielte er mit seiner Behandlungsmethode eine Hei-
lungsquote von fast 20 Prozent. Wurde seine Therapie mit To-
xinen nach der ersten Behandlung weitere sechs Monate ange-
wandt, so stieg die Rate der Rückbildungen, bei denen der
Krebs auch nach fünf Jahren nicht wieder ausgebrochen war,
sogar auf 80 Prozent. Das besagt jedenfalls die Statistik, die Co-
leys Tochter im Nachhinein erstellte.6 Diese Zahl entspricht
den heutigen Statistiken zur Sarkom-Behandlung und über-
trifft diese sogar, lässt man die Langzeitwirkungen von Chemo-
therapien und Bestrahlungen unberücksichtigt.

Für kurze Zeit war Coleys Therapie mit Toxinen (auch
„Fiebertherapie" genannt, weil sie hohes Fieber auslöste) die
einzige bekannte Krebstherapie neben der operativen Entfer-
nung, doch wurde diese einfache bakterielle Immuntherapie in
wissenschaftlichen Kreisen nie wirklich anerkannt. Ein Grund
dafür war die Qualitätskontrolle, denn es gab weder eine ein-
heitliche Toxinvorgabe noch eine empfohlene Dosis, und viele
Ärzte, die nur geringe Mengen verabreichten, erzielten damit
keine guten Ergebnisse.7,8 Hinzu kam, dass eine Therapie mit
Impfstoffen für die pharmazeutische Industrie nicht interessant
war, denn damit ließ sich – damals wie heute – nicht genug
Geld verdienen. Und da die Medizin Ende des 19. Jahrhunderts
noch nichts von einem Immunsystem wusste, fehlten den Wis-
senschaftlern zudem die Voraussetzungen, um verstehen zu
können, weshalb die Toxine wirkten.9 Mit Aufkommen der
Bestrahlungstherapie schwand das Interesse an der Therapie mit
Toxinen.

Anfangs wendeten die Ärzte oft noch beide Therapieformen
an. Aber bei Stephan Hall können wir nachlesen, dass die Be-
strahlung so sehr in Mode kam, dass Coleys übereifriger Chef,
Dr. James Ewing, der damalige Leiter des Memorial Hospital,
seine Ärzte anwies, nicht nur Knochenkrebs mit hoch dosierter
Strahlung zu behandeln, sondern auch alle anderen Fälle von
„lang anhaltenden unerklärlichen„ Knochenschmerzen.10 Un-
terdessen wurden Coleys Toxine uninteressant, obwohl seine
Behandlungsmethode erfolgreicher war als die Bestrahlung.
Von 25 Patienten des Memorial Hospital mit inoperablem Sar-
kom, die nur bestrahlt wurden, starben 21, und bei 3 Patienten
war die Behandlung noch nicht abgeschlossen, sodass die The-
rapieform nicht bewertet werden konnte.11 Im Gegensatz dazu
waren von 22 Patienten mit inoperablem Sarkom, die mit Co-
leys Toxinen behandelt worden waren (davon manche zusätz-
lich mit Bestrahlung), 12 Patienten auch nach fünf Jahren noch
ohne neuerlichen Krebsbefund, womit sie aus klinischer Sicht
als geheilt galten.

Aber wer interessierte sich schon für die Statistiken – Ra-
dium war der letzte Schrei, Coleys Toxine interessierten nie-
manden. Bedenkenlos folgten die Menschen dem Radium-
Wahn, der sich unkontrolliert ausbreitete. Versehen mit dem
Etikett „Sanfte Radiumtherapie", um sie so von der den Krebs-
Patienten vorbehaltenen hoch dosierten Radiumbestrahlung zu
unterscheiden, wurden die Radiumpräparate über die La-
dentheke verkauft und schnell zum Renner. Radium-Fußsal-
ben waren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ganz
groß in Mode; für Männer gab es sogar ein Suspensorium mit
Radium. Manche Hersteller versetzten selbst Süßigkeiten mit
Radium und brachten mit Radium angereichertes Wasser auf
den Markt, das sie „Radithor" nannten. Das Gebräu wurde als
Energie-Elixier für 1 Dollar angepriesen; es sollte bei 150 „en-
dokrinologischen" Leiden helfen – von Rheumatismus und er
höhtem Bludruck bis zu Erschöpfung und sexuellen Funkti-
onsstörungen.

In der jeder Flasche „Radithor" beiliegenden
Broschüre des Arztes hieß es: „Die belebende Wirkung auf das
Nervensystem bringt in der Regel eine Leistungssteigerung der
Sexualorgane mit sich." Kein Wunder also, dass über 400 000
Flaschen verkauft wurden.

Schon bald nachdem der Stahlindustriemagnat und ehema-
lige Meister im Amateurgolf Eben M. Byers auf den Rat seines
Arztes hin anfing, täglich Unmengen von „Radithor" zu trin-
ken, um eine Armverletzung zu behandeln, verlor das frei ver-
käuf liche Radium jedoch seine Attraktivität. Nach der ersten
belebenden Wirkung verdreifachte Byers seine tägliche Dosis,
fühlte sich dann jedoch immer erschöpfter und verlor enorm an
Gewicht. Als er schließlich die Ursache herausfand, war es zu
spät. Die ohnmächtige Food and Drug Administration (FDA: zen-
trale Behörde für das Nahrungs- und Arzneimittelwesen in den
USA) durfte damals nur Warnungen aussprechen. Nicht so die
Federal Trade Commission (FTC: Bundesbehörde für Verbrau-
cherschutz in den USA), die den Herstellern der Radium-Eli-
xiere umständlich vorwarf, dass ihre Getränke nicht die angege-
benen Radium-Mengen enthielten.

In der Zwischenzeit hatte das Radium bei Byers kurz nach-
einander einen Großteil seines Ober- und Unterkiefers aufge-
löst und Löcher in seinem Schädel hinterlassen. Die Schmerzen
und Entstellungen waren grausam. „Das Radium-Wasser zeigte
gute Wirkung, bevor er seine Kinnlade verlor", lautete die lako-
nische Überschrift eines Artikels, der im Wall Street Journal er-
schien und über Eben Byers verhängnisvolle Erfahrung mit
„Radithor" berichtete. Der einst flotte, kräftige Industrielle
war auf 46 Kilo abgemagert und wurde, zwischen den gestärk-
ten weißen Laken des Doctors' Hospital in New York City lie-
gend, immer schwächer, bis er schließlich am 31. März 1932 im
Alter von 51 Jahren starb und erneut für Schlagzeilen sorgte.

Einige Monate zuvor war die FTC endlich aktiv geworden und
hatte die Herstellung von „Radithor" verboten. Wenig später
wurde die FDA mit der Kontrolle über dieses chemische Ele-
ment beauftragt.

Erstaunlicherweise wirkte sich Byers Tod nicht auf die hoch
dosierten Bestrahlungsmethoden aus – vielleicht, weil Coleys
Toxine passé waren und es außer der operativen Entfernung
keine alternative Krebsbehandlung gab. Als Coley 1936 starb,
geriet seine als „übertrieben" eingestufte Immuntherapie völlig
in Vergessenheit.

1965 ging die American Cancer Society (amerikanische Krebsgesellschaft)
sogar so weit, Coleys Toxine auf die Liste der „unbewiesenen"
Krebsmittel zu setzen, womit seine Therapie zusammen mit
Kaffeeeinläufen und Laetrilen als Quacksalberei abgestempelt
wurde. Dieses Urteil wurde zwar zehn Jahre später wieder
aufgehoben, aber in den USA war der schlechte Ruf dieser un-
terschätzten Behandlungsmethode besiegelt.
In anderen Ländern hingegen wurde die Impftherapie sehr
geschätzt.

Coleys Impfstoff liefert sehr gute Ergebnisse.

Hundert Jahre wissenschaftlicher und politischer Unbeweglich-
keit und vor allem die Gier unwissender, unbelehrbarer Men-
schen haben jedoch dafür gesorgt, dass die Impftherapie noch
immer keine anerkannte Krebsbehandlung ist. Sehr wahr-
scheinlich wird Coleys Methode dies auch niemals werden,
denn man kann ein hundert Jahre altes Medikament nicht pa-
tentieren lassen.

Viele erstklassige Entdeckungen wurden zunächst nicht nur
nicht anerkannt, sondern sogar lächerlich gemacht. (Anderer-
seits wurden auch viele Entdeckungen, wie zum Beispiel die
Bestrahlungstherapie, eine Zeit lang überbewertet.) Trauriger-
weise ist William Coleys Schicksal kein Einzelfall. Er starb ver-
gessen und verarmt – nachdem er beim Börsenkrach von 1929
sein ganzes Geld verloren hatte.


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